Israelitische Taubstummenanstalt (ITA)

Der jüdische Pädagoge Markus Reich verschrieb sich zunächst in seiner Wohnung und später in dem – heute nicht mehr existierenden – Haus auf dem Grundstück in der Neuendorfer Straße 5 (Alte Neuendorfer Straße) der Ausbildung von gehörlosen, jüdischen Kindern und Jugendlichen. Zu diesem Zeitpunkt waren die Ausbildungs­möglichkeit für Kinder mit Behinderungen sehr begrenzt. Da für sie keine Schulpflicht galt, wurden sie aus­schließ­lich in privaten, meist christlich getragenen Einrichtungen unterrichtet. Für jüdische Kinder gab es praktisch kein Angebot. Somit waren die Wege nicht nur für eine Schul­ausbildung, vor allem aber für eine Berufs­ausbildung oder gar Existenz­gründung und somit ein selbstbestimmtes Leben für die meisten verschlossen.

Nach seinem Abschluss an der Jüdischen Lehrerbildungsanstalt in Berlin und dem Studium an der Königlichen Taubstummen­anstalt in Berlin gründete Reich am 14. Juli 1873 in Fürsten­walde die „Israelitische Taubstummenanstalt“ (ITA). Zunächst bot die Schule, die aus Spenden finanziert wurde, Platz für sieben Kinder. Doch der Bedarf war viel größer, zumal die Anstalt 1876 eine Qualitätsbestätigung durch den General­inspektor des Taubstummen­wesens in Preußen erhielt. Dank zahlreicher Spenden konnte daraufhin schon drei Jahre später eine spezielle Abteilung für Mädchen eröffnet werden. Diese unterstand direkt der Schwester von Markus Reich, Anna. Im selben Jahr stieß die ausgebildete Kindergärtnerin und frisch verheiratete Ehefrau von Markus Reich, Emma (geb. Maschke) zum Kollegium. Sie stammte aus Fürsten­walde und blieb der Anstalt nach dem Tod von Markus und Anna Reich im Jahr 1911 als wichtigste Stütze erhalten.

Um die Finanzierung der Schule zu sichern, rief Reich im Jahr 1884 den Verein „Jedide Ilmim“ (Freunde der Taubstummen) ins Leben. Die festen Mitgliederbeiträge und zusätzliche Spenden erlaubten endlich eine erhebliche Vergrößerung der Schule und die Entwicklung von wichtigen pädagogischen Angeboten. Zudem garantierte der Verein Beihilfen für eine weiterführende Ausbildung und den Start ins selbständige Berufsleben. In den besten Zeiten wuchs die Zahl der Mitglieder auf 8.000.

Nun entsprachen aber die Räumlichkeiten in der Neuendorfer Straße 5 nicht mehr den Bedürf­nissen der Schule. Im Zuge der Suche nach einem geeigneten Grundstück für einen Neubau beschloss der Verein 1888 den Umzug nach Berlin-Weißensee. Zwei Jahre später verließ Familie Reich mit ihren Schülern Fürstenwalde. Die Schule bezog ein neues drei­stöckiges Gebäude in der heutigen Parkstraße 22, die bis zur der national­sozialis­tischen Macht­ergreifung 1933 das bedeutendste Ausbildungszentrum für gehörlose, jüdische Kinder im Deutschen Reich und in der Weimarer Republik blieb.

Weiterführende Informationen zur Schule in Weißensee: www.stephanus.org (PDF)

Das Jahr 1873 – die israelitische Taubstummenanstalt entstand“, Artikel von Manja Wilde in der MOZ vom 27. Juli 2023